Wie bleibt man zu Hause, wenn man gar kein Zuhause hat?

Die Hilfe für Obdachlose und arme Menschen läuft gerade auf Sparflamme

Sibylle Kranich - BNN 25.03.2020

Es ist ein eiskalter Morgen, auch wenn die Sonne ihr Bestes gibt. Arno sitzt dick verpackt mit einer Mütze unter der Kapuze seines Hoodies im Treppeneingang eines Hauses auf der Karlsruher Kriegsstraße. An der Hauswand lehnen seine Krücken, daneben liegt ein kleiner, grauer Rucksack, in dem der Obdachlose seine Habseligkeiten mit sich herum- trägt. Weit hat er es heute noch nicht gebracht. Die meisten Nächte verbringt Arno im Haus nebenan. In der Nummer 88 bietet der Erfrierungsschutz der Stadt bis zu 50 Männern ein Bett. Die großen Schlafsäle dort sind trotz Corona geöffnet. Das ist in Zeiten des Kontaktverbots eigentlich nicht angezeigt, aber Menschen, die wie Arno überhaupt keine Bleibe haben, rettet der Raum das Leben.

Corona hat uns auseinandergesprengt
Arno - lebt auf der Straße

Bis 9 Uhr morgens müssen alle Übernachtungsgäste den Erfrierungsschutz wieder verlassen haben. Unten im Hauseingang gibt es noch ein kleines Frühstück auf die Hand, dann heißt es: raus auf die Straße. Hier beginnt das Problem. Unter normalen Umständen würde der 62-Jährige jetzt zur „Tür“ im Erdgeschoss und wieder rein ins Warme gehen. Im gleichnamigen Tagestreff der Diakonie gibt es Getränke, Essen und vor allem Gemeinschaft. Arno hat dort ein festes Team von Schachspielern um sich geschart. Bis vor Kurzem trafen sie sich täglich. „Corona hat uns auseinandergesprengt“, sagt Arno und dreht sich mit steifen Fingern eine Zigarette.

„Die Corona-Krise ist eine Katastrophe für Obdachlose“, meint Ursel Wolfgramm, die Vorstandschefin der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg. Um Ansteckung zu vermeiden, werde Hilfe nur noch auf Sparflamme angeboten. Von Ehrenamtlichen getragene Angebote wie Obdachlosenküchen hätten geschlossen, weil die Helfer sich in die eigenen vier Wände zurückgezogen hätten.

„Diese Situation trifft die armen Menschen in der Stadt ganz besonders hart“, bestätigt Anita Beneta. Die Leiterin für den Bereich allgemeine Sozialarbeit und Integration beim Diakonischen Werk in Karlsruhe musste für den Tagestreff „Tür“ auf Notversorgung umstellen. Zum Schutz der Mitarbeiter und der Kunden stehen die Räume nur noch montags bis freitags von 7.45 bis 9 Uhr und nicht mehr den ganzen Tag zur Verfügung. „Die Menschen können bei uns duschen und sich ein Vesper mitnehmen“, sagt Beneta. Dabei wird streng darauf geachtet, dass Sicherheitsabstände eingehalten werden. Ein längerer Aufenthalt ist nicht mehr möglich. Ganz geschlossen haben der alkoholakzeptierende Raum A3 in der Südstadt und die Anlaufstelle für Drogenabhängige „Get in“.

Rund 41.000 Männer und Frauen machen nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsloser Platte. Das heißt, sie kampieren unter Brücken, in Parks, Unterführungen oder unterirdischen Nahverkehrshaltestellen. Im Südwesten haben nach Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 23.000 Menschen keinen festen Wohnsitz. Wobei das nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie auch obdachlos sind. In Karlsruhe beispielsweise haben viele Wohnsitzlose ein Zimmer in Übernachtungsheimen. „Wirklich obdachlos sind bei uns vielleicht 30 Personen“, schätzt Sozialbürgermeister Martin Lenz.

Arno ist einer davon. Für ihn ist die derzeitige Situation mehr als schlimm. „Totale Katastrophe“, murmelt er. Wie er den heutigen Tag verbringen wird? „Keine Ahnung.“ Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Orte zum Verweilen wie Bibliotheken oder Einkaufszentren haben zu, auf dem Werderplatz achtet die Polizei darauf, dass es nicht zu Menschenansammlungen kommt, sogar die öffentlichen Toiletten seien gesperrt, sagt Arno. Zur Essensausgabe der Peter- und-Paul-Gemeinde ist es mit den Krücken zu weit. Und Geld für einen Döner in einem Straßenverkauf hat er auch nicht. Bis der Erfrierungsschutz um 18 Uhr wieder öffnet, wird es ein verdammt langer Tag werden.

Neben allen materiellen Sorgen ist es vor allem der Wegfall einer gewohnten Tagesstruktur, der für die ärmsten Menschen der Gesellschaft in diesen Tagen zu einem Problem wird. Deshalb hat Lissi Hohnerlein vom Tagestreff für Frauen „taff“ in der Belfortstraße auch beschlossen, ihre Türen offen zu halten. „Nicht für alle, aber wenigstens für unsere obdachlosen Frauen“, sagt die Diplom-Sozialarbeiterin. Denn die müssten nach der Nacht im Erfrierungsschutz für Frauen sonst den ganzen Tag draußen verbringen. Normalerweise treffen sich im „taff“ aber auch viele andere hilfsbedürftige Frauen aus dem gesamten Stadtgebiet. Wegen Corona müssen sie nun zu Hause bleiben und können nur telefonisch Kontakt aufnehmen. „Die haben unheimlich viele Fragen und Sorgen“, hat die taff-Leiterin festgestellt.

Das Geld ist knapp, aber der Monat ist noch lang.
Lissi Hohnerlein - Diplom-Sozialarbeiterin

Wie zum Beweis klingelt das Telefon im Hintergrund unermüdlich. „Man merkt jetzt, dass das Geld knapp wird, aber der Monat noch viele Tage übrig hat“, erklärt sie. Die Angst, nicht mehr über die Runden zu kommen, wächst. Im Supermarkt sind fast nur noch teure Markenprodukte zu bekommen, die meisten Tafelläden haben zu. Und gerade für die Gruppe der alleinerziehenden Mütter in prekären Situationen ist es schon jetzt, nach knapp einer Woche Ausnahmezustand, richtig, richtig schwierig geworden. In der Frauenpension an der Kaiserallee zum Beispiel, wo viele Mütter sich mit ein bis drei Kindern ein Zimmer teilen müssen, wächst die Spannung. „Sie sind auf engstem Raum zusammengepfercht, die Küche darf man gemeinsam nicht mehr nutzen – denen fällt die Decke auf den Kopf.“

Die Sorge vor der Zukunft wächst. Bei allen und bei den Armen am meisten. Ulf Schulz ist weder obdach- noch joblos. Seit mehreren Jahren arbeitet der Langzeitarbeitslose als Ein-Euro-Jobber in einem Tafelladen. „Jetzt hat der Laden zu und ich verdiene nichts mehr“, beklagt Schulz. Das sei aber gar nicht sein Hauptproblem. Etwas ganz anderes treibt ihn um: Jahrelang hing Ulf an der Flasche. Erst der Job und die Aufgabe hätten ihm die Kraft gegeben, die Finger vom Alkohol zu lassen. „Jetzt habe ich große Angst, dass ich zu Hause hocke und wieder anfange.“

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